Im Blickpunkt |
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Die
bosnische Kriegswaise Sedina verarbeitet ihren Schmerz in Gedichten |
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»Ich
hoffe, ich sterbe nicht so allein« |
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Von Holger
Spierig |
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Sedina
gehört zu den vielen Kindern in Bosnien, die in dem Krieg ihre
Eltern verloren haben. Die meisten Kriegswaisen haben schwere
seelische Schäden erlitten. Sedina schreibt gegen ihren Schmerz an.
Ihre Gedichte sind nun auf Deutsch erschienen. |
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Für
andere Kinder ist der Geburtstag der schönste Tag in ihrem Leben.
Für Sedina ist er jedes Mal ein Albtraum. Ihre schlimmsten Träume
schreibt sie auf, wie den zu ihrem 8. Geburtstag. Da entdeckt sie,
als sie sich erwartungsvoll nach Geschenken umschaut, nur zwei
Reisetaschen und die sorgenvollen Gesichter der Eltern. Sie sieht
das Haus brennen und viel Blut. Ihr Vater geht weg, die Hand ihrer
Mutter entgleitet ihr. Am Schluss ist sie allein mit ihrem Schmerz:
»ich weine, ich ersticke an tränen und denke: das ist nur ein
alptraum. ich bete zu gott, daß ich aufwache. ich wache auf, aber
– der schmerz ist immer noch da. in meinem herzen. in meiner seele.
er hört nie auf. und ich weiß: das ist alles genauso geschehen wie
in meinem traum. ich weiß, die erinnerung wird verblassen. aber der
schmerz nicht.«
Mit ihren Texten und Gedichten verarbeitet Sedina ihre
Erlebnisse aus dem von 1992 bis 1995 tobenden Bürgerkrieg in ihrer
Heimat Bosnien. »An meinem Geburtstag muss ich immer daran denken,
wie es war, als unsere Eltern noch da waren«, erzählt Sedina.
Sedina und ihr Bruder gehören zu den vielen Kindern im ehemaligen
Jugoslawien, die nach dem Krieg ohne Eltern aufwachsen müssen. Als
der Krieg begann, ging sie gerade in die zweite Klasse. Nun ist sie
19. Ein junges, ernstes Mädchen, das wie viele ihrer
Leidensgenossen, zu früh erwachsen werden musste.
Ihren Schulunterricht hat sie seit der zweiten Klasse an wenigen
Tagen in der Woche in verschiedenen Räumen, oftmals in Kellern
erhalten. Seit Sedinas 8. Geburtstag 1992 musste die Familie ihr
Haus im mittelbosnischen Zavidovici verlassen und kam bei Verwandten
unter. Der Vater wurde zur Armee eingezogen. Ein Jahr später war er
tot. Sedina erinnert sich, dass der Onkel alle paar Wochen
hinausging, um den Vater vielleicht unter den von Serben
erschossenen Soldaten zu finden. Als er das fünfte Mal
wiedergekommen sei, hatte er seinen Bruder unter den toten Körpern
wiedererkannt.
»wieder mitten in der nacht / wach ich auf – das kissen naß /
wieder habe ich geträumt / deine augen, vater, sehn / mich so lieb
und zärtlich an / auch wenn du gestorben bist / wieder träum ich:
du bist da / deine hände streicheln mich / hab geträumt, daß du
noch lebst / hab gesehen, wie’s früher war / ich war acht und
hielt dich fest / aber nein, es schlägt die uhr / und ich weiß:
ich bin allein / weiß, ich bin ein waisenkind« (mein traum)
Die meisten Kinder in Bosnien haben schwere seelische Schäden
erlitten. Viele würden noch Jahre lang eine psychologische
Betreuung brauchen. Sedina schreibt. Immer dann, wenn die dunklen
Schatten sie zu überwältigen drohen, versucht Sedina, ihre
Gefühle auf diese Weise auszudrücken. »Wenn ich ein Gedicht
geschrieben habe, merke ich, dass es mir ein bisschen besser geht«,
erzählt die junge Bosnierin. Sie erinnert sich: Ihr erstes Gedicht,
das sie in der Schule schrieb, widmete sie ihrer Mutter – eine Art
Liebesgedicht. Auch heute schreibt sie über ihre Mutter. Auch heute
sind es wieder Gedichte der Liebe, doch diesmal sind es Wort
gewordene Tränen. An dem Tod der Mutter war nicht der Krieg schuld.
Sie starb 1997 nach dem Bürgerkrieg im Krankenhaus.
»ich sitze allein und verlassen / bin ausgeliefert an das, was
kommt / ich warte auf glückliche tage / ganz langsam falln mir die
augen zu / ich hoffe, ich sterbe nicht so allein« (einsamkeit)
Nachdem Sedina und ihr Bruder lange Jahre bei Verwandten gewohnt
haben, ist sie mit ihm in eine eigene Wohnung gezogen. Die kleine
Schwester versucht, ihm eine Mutter zu sein. Sie kocht für den
Bruder und achtet darauf, dass er saubere Hemden anzieht. Wenn die
junge Bosnierin an ihre Zukunft denkt, hat sie schon feste Pläne.
Sie will Sozialarbeit studieren. Wenn sie fertig ist, möchte sie
anderen Kindern ohne Eltern helfen. »Damit sie wieder etwas Freude
am Leben bekommen«, sagt Sedina.
Dass Sedinas Gedichte nun auf Deutsch zu lesen sind, ist der
deutschen Gruppe »Gewaltlos leben« zu verdanken. Sedina gehört zu
den über 30 Kriegswaisen, denen sich die Friedensgruppe um den
Thüringer Pfarrer Jo Winter angenommen hat. Seit über zwei Jahren
kümmert sich die Gruppe in ihrem Projekt »Za Djaka« (für
Schüler) darum, dass die Kinder zur Schule gehen können, dass sie
Stifte und Schulbücher und auch etwas zu essen bekommen. Und
manchmal organisiert die Gruppe auch eine Rüstzeit, wo die Kinder
und Jugendlichen sich untereinander kennen lernen,
friedensthematische Arbeit erleben und einige unbeschwerte Tage
verleben können. Bei einer solchen Freizeit im vergangenen Jahr am
bosnischen Boracko Jezero – am See der Kämpfer – sprach der
Thüringer Pfarrer das Mädchen an und forderte: »Ich will ein Kilo
Gedichte von dir.«
Inzwischen haben die Texte weite Wege und verschiedene
Übersetzungen hinter sich. »Die Gedichte sind so wahrhaftig und
haben einen ganz eigenen Rhythmus«, schwärmt Jo Winter, selbst
Lyriker, der die Texte bearbeitete.
Die letzte Fassung wurde mit einer Bosnischdozentin und Sedina
gemeinsam besprochen. In liebevoller Eigenproduktion ist daraus im
Langenschader Pfarrhaus in Südthüringen das Bändchen mit dem
Titel »zurück ins leben« entstanden. Einer von Sedinas Freunden,
Ines, wie sie selbst Kriegswaise, hat mitgeholfen. Die ersten 150
zusammengehefteten, mit Anmerkungen, Fotos und Faksimiles versehenen
Bändchen sind bereits in der Gruppe von »Gewaltlos leben«
vergriffen. Mittlerweile gibt es Gespräche mit verschiedenen
Verlagen, damit die Gedichte einmal in einer etwas größeren
Auflage erscheinen können.
Sedina fühlt sich noch nicht als Lyrikerin. Für sie ist die
Verarbeitung ihrer Gefühle durch eigene Texte zu einer
selbstverständlichen Sprache geworden. Deshalb aber will sie weiter
schreiben. »Vielleicht«, sagt sie mit einem leichten Anflug eines
Lächelns, »werden es irgendwann auch fröhlichere Themen sein,
über die ich schreiben werde.«
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